VVN BDA

„Wenn ich von Widerstand spreche, von antifaschistischem Widerstand, dann gehört für mich immer auch das Handeln dazu. Nicht nur eine Überzeugung, sondern das Handeln.“

Dieser Text basiert auf einem Interview mit der VVN-BdA – Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, das zwei Mitglieder unserer Initiative mit einem Vertreter der VVN-BdA aus Kassel geführt haben. Dies ist eine stark zusammengefasste Version. Eine ausführlichere Version des Textes mit weitere wichtigen Punkten findet sich hier.

Wofür steht das Datum für die VVN-BdA? Wie erlebt ihr die Praxis vom 8. Mai?

Für uns als VVN ist der 8. Mai ein zentrales Datum, das jahrzehntelang in der ideologischen Kontroverse der Bundesrepublik Deutschland zwischen Niederlage, Zusammenbruch und Katastrophe diskutiert wurde. Und die Antwort von uns als Antifaschisten war: TAG DER BEFREIUNG. Befreiung bedeutet für uns nicht nur die Befreiung der Völker, der Okkupierten, der Verfolgten, der Inhaftierten in den Konzentrations- und Haftstätten, sondern auch – und selbst wenn sie es nicht kapiert hatten – die Befreiung der Bevölkerung, die jetzt nicht mehr dem Druck des NS-Regimes und deren Ideologie ausgesetzt war und eine Chance bekam einen Neuanfang zu machen. Das ist die politische Perspektive, die man an diesem Tag immer wieder reaktivieren muss. Und darüber nachzudenken, was das bedeutet für unsere heutige Perspektive und die morgige Perspektive, dass muss eigentlich der Sinn dieses Datums sein. Nicht im Sinne von „alleine gedenken“ – natürlich machen wir die Gedenkveranstaltung – aber es hat immer auch die Funktion zu sagen: „Wohin sollte es eigentlich gehen?“

Es gibt ja über das Jahr andere Daten, die antifaschistisch relevant sind. Wie sieht da eure Praxis als Organisation aus?

Der 7./9. November, das Gedenken an die Pogromnacht, ist etwas was wir tatsächlich seit 25 Jahren öffentlich machen. Es gibt seit ca. 20 Jahren auch verschiedene Gedenkveranstaltungen u.a. im Rathaussaal, es gibt Lesungen. Wir aber haben gesagt, das ist ein Ereignis, das vor den Augen dieser Stadt passiert ist, also erinnern wir auch vor den Augen dieser Stadt daran. Erinnern ist nichts, was man nur über den Kopf durch wissenschaftliche Vermittlung, Vorträge u.a. machen kann. Man muss es auch zeigen. Man muss es öffentlich sichtbar machen.

Ich will das gar nicht unterschätzen, es hat auch was Emotionales, nicht nur Rationales. Und ich glaube das ist etwas was bei der Frage der Vermittlung und auch für die persönliche antifaschistische Haltung eine Rolle spielt, dass beide Elemente drin sind. Ich bin sehr weit von einer Horrorpädagogik oder irgendwelcher Betroffenheitsdidaktik entfernt, das braucht kein Mensch.

Wir brauchen Wissen. Aber wir brauchen auch etwas, was den Menschen berührt. Es ist nicht nur die Faktenlage, sondern es muss auch etwas sein, wo man sagt: ja, das hat etwas mit meiner Haltung zu tun. Das kann man, glaube ich, in solchen öffentlichen Erinnerungsformen leichter herstellen.

Spätestens seit Bundespräsident Weizsäcker ist die Bezeichnung „Tag der Befreiung“ offizieller Konsens. Was braucht es, damit Erinnern nicht nur so ein ritualisiertes, mittlerweile sehr staatstragendes Moment ist?

Erinnern ist keine ritualisierbare Aufgabe. Erinnern ist immer eine Kampfaufgabe. Es ist tatsächlich eine Herausforderung Wege zu finden, wie man Zugänge zu diesem historischen Thema bei jungen Menschen ermöglicht. Also muss man gucken, dass man sie auf Fragestellungen hinweist, ihnen Zugänge eröffnet, die nicht im Mainstreambereich kommunizierte Themen sind.

Und eines dieser Themen ist der lokale Bezug. Das heißt, Faschismus fand hier statt. Und deswegen werden wir sagen, vor den Augen dieser Stadt. Dann sagen wir: Die Verbrechen, über die wir uns alle echauffieren können, waren aber keine Verbrechen, von denen man nicht wusste, sondern sie waren sichtbar. Und selbst wenn Auschwitz ganz weit weg ist, zeigen die Stolpersteine die jetzt rumliegen: hier haben die Leute gewohnt. Das heißt die waren hier in der Gegend.

Das zweite Thema: Wir versuchen immer darauf hinzuweisen, dass es Menschen gab, Frauen und Männer, die sich dem entgegengestellt haben. Es gab nicht nur die Opfer, es gab nicht nur die Verfolgten, es gab nicht nur die, die gelitten haben, ob öffentlich oder weniger öffentlich verfolgt und ausgesperrt. Es gab auch diejenigen, die trotz extremer Bedingungen bereit waren, dem entgegenzutreten. Es geht jetzt nicht darum, dass ich eine heroische Widerstandsgeschichte aufmache. Aber wenn es uns nicht gelingt, auch zu signalisieren und in Erinnerung zu behalten, dass es diese Frauen und Männer gegeben hat, dann haben wir überhaupt gar keine Chance zu sagen, dass man auch anderen Verhältnissen, mit viel viel weniger Risiko heute entgegentreten kann.

Und die Fragen: Warum haben sie es gemacht und wie haben sie es gemacht?

Sie hatten eine Überzeugung. Man musste sich schon mal die Mühe gemacht haben, darüber nachzudenken wie diese Gesellschaft eigentlich funktioniert und was da falsch läuft. Und es war extrem wichtig, dass man es zusammen mit anderen machte. Das gemeinsame Überleben hat was mit gemeinsamen Überzeugungen zu tun.

Dass für uns dieses Thema Erinnern ganz viel auch mit Widerstand zu tun hat, ist etwas was uns von dem staatlich ritualisierten Gedenken in jeder Hinsicht unterscheidet.

Hier in Kassel haben wir ja noch andere Daten, an denen antifaschistisches Erinnern stattfindet, vielleicht noch nicht genug stattfindet. Wie erlebt ihr da den Umgang mit dem Mord an Halit Yozgat und was für eine Bedeutung hat dieser aus eurer Perspektive?

Das ist vollkommen korrekt. Wenn wir uns bei dem Erinnern und Gedenken allein auf die NS-Zeit beziehen würden, würden wir erheblich wichtige Dinge ausblenden. Geht gar nicht. Wir müssen natürlich Halit Yozgat, als einer der symbolträchtigsten Mordaktionen des Neofaschismus und natürlich den Walter-Lübcke-Mord mitdenken. Das sind Dinge wo ich sage: dazu müsste es eigentlich andere Formen des Erinnerns geben als wir es jetzt im Moment erleben.

Die Herausforderung ist und das ist auch eine Schwierigkeit im Umgang mit dem 6. April: Solange die Familie Yozgat auch für sich selber – natürlich völlig zurecht – reklamiert, ihrem Sohn, dem Opfer des Naziterrors, zu erinnern und bestimmte Formen des Erinnerns für sie relevant sind, würde ich den Teufel tun, etwas gegen oder ohne diese Familie zu organisieren. Das geht nicht. Aber trotzdem brauchen wir als Gesellschaft Wege und Formen dieses Verbrechens und der Verbrecher und der sie Deckenden zu erinnern, um das nicht einfach nur als Datum stehen zu lassen.

Wenn man der Zivilgesellschaft diesen Gedenktag quasi enteignet, wie in den letzten Jahren zu beobachten, und in die administrative Verantwortung der Stadt übergibt, und die Stadt dann im Prinzip ihr Programm abspult, und den Rest außen vor lässt, dann entsteht daraus keine antifaschistische Perspektive.

Dasselbe Problem haben wir ja auch bezogen auf den Walter-Lübcke-Mord, da ist es sogar noch schwieriger. Weil da natürlich noch viel „mehr“ mit dran hängt. Also wenn man allein dieses Verfahren betrachtet, wo alles dafür getan worden ist, keine kriminelle Vereinigung daraus zu machen, sondern die Einzeltäterthese noch einmal bestätigt wurde durchs Gericht. Zum Beispiel wie vor Gericht die Einzeltäterthese manifestiert wurde. Also es ist absurd. Trotzdem ist es schwierig wie man das macht, weil natürlich auch die Bedarfslage der Familie Lübcke, Frau Lübcke und die beiden Söhne, mit bedacht werden muss. Man kann nichts machen, was quasi gegen sie gerichtet scheint, sondern man muss andere Dinge machen, es möglicherweise kontextualisieren, oder in anderer Form mit aufnehmen. Und das ist auch eine Frage von Sensibilität im Umgang miteinander.

Das war ja letztes Jahr unser Ausgangspunkt. Das zu verbinden und dann kommen ja aber Fragen: Welche Form des Erinnerns ist richtig und wie kann man politische Forderungen sichtbar machen? Wie können unsere Bündnisse größer werden?

Ich bin dafür punktuelle Allianzen zu schaffen. Ich bin gegen große Bündnisse, die durch Dinge, die außen passieren auf einmal zerschossen werden, weil man zu bestimmten Themen so unterschiedliche Meinungen hat, dass man dann nicht miteinander reden kann. Man muss gucken, wie kriegt man es hin, das man die themenbezogenen Zusammenführungen von Kräften verstärkt. Und fragen was ist die jeweilige Zielperspektive, was wollen wir mit der jeweiligen Aktion erreichen? Wollen wir uns selber verständigen? Wollen wir signalisieren, dass es ganz viele Unterstützer einer bestimmten Haltung gibt? Das wäre eine ganz positive Perspektive. Oder wollen wir in bestimmten Bereichen gesellschaftlich wahrgenommen werden? Das geht natürlich nur, wenn man auch Kräfte in dieser Allianz hat, die auch gesellschaftliche Bedeutung haben.

Wie sind denn da eure Erfahrungen mit antirassistischen oder migrantischen Gruppen? Habt ihr da Erfahrungen?

Wir haben schon Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit diesen Gruppen, aber wir wissen auch, dass es nicht immer einfach ist. Und zwar weil sich innerhalb dieser Gruppen und damit meine ich jetzt nicht gerade die Migrantifa, die gibt es ja in einzelnen Orten auch als Gruppe, sondern innerhalb der migrantischen Communities zwei Dinge verbinden:

Betroffenheit durch rassistische Diskriminierung als Realerfahrung, die wir als „Gebürtige“, tatsächlich nur von Ihnen erfahren können, weil das erleben wir nicht. Das ist eine Erfahrung die habe ich nicht, die kann ich mir immer nur erklären, erzählen lassen. Das ist das eine: Die haben eine Diskriminierungserfahrung, die wir von ihnen erfahren müssen, annehmen müssen und uns auch erstmal damit auseinandersetzen müssen.

Das zweite ist aber auch noch, wenn sie sich in einer migrantischen Community bewegen, die sich auch noch einer bestimmten Gruppenzusammengehörigkeit anschließt, haben sie gleichzeitig innerhalb ihres Zirkels eine Form von Nationalismus bzw. nationalistische Perspektiven, was ja auch durchaus nachvollziehbar ist. Es sind ja nicht nur Sprach-Communities, sondern auch kulturelle Communities das ist ja alles auch in Ordnung. Aber zu erwarten, dass jemand der Diskriminierungserfahrungen erlebt, definitiv keine Diskriminierung gegen andere ausübt, das ist völliger Quatsch. Das ist blauäugig, illusionär, das geht nicht. Also muss man gucken, wenn man mit diesen Gruppen kooperiert oder versucht zusammenzugehen, ob das anlassbezogen möglich ist. Abgesehen von den Sinti und Roma-Strukturen mit denen wir sehr kontinuierlich zusammenarbeiten und DIDF, haben wir eher anlassbezogene Kooperationen. Die sind nicht schwierig, aber sie sind nicht kontinuierlich.

Wir haben diese beiden Morde, Walter Lübcke, Halit Yozgat. Für uns markiert das, dass der Aufbau einer antifaschistischen Gesellschaft nach `45 nicht gelungen ist. Was heißt das für antifaschistische Praxis heute?

Wir haben als politisches Programm unserer Organisation immer noch die Kernbotschaft der Häftlinge von Buchenwald von 1945 „Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unser Ziel …“. Wenn wir 77 Jahre lang immer noch dieselbe Botschaft haben, heißt das ja, dass diese Ziele, die die Überlebenden der Lager und zwar nicht nur in Buchenwald formuliert haben, noch nicht funktioniert haben. Dass es Ansätze der gesellschaftlichen Neuorientierung gegeben hat, ist alles richtig. Es hat verschiedene Umstrukturierungen gegeben, Demokratisierungsprozesse. Ist alles richtig. Aber Grundstrukturen der Gesellschaft, die nämlich auch Grundlagen für eine sozial gerechte Gesellschaft herstellen, sind offensichtlich noch nicht in der Form geschaffen worden. Und deswegen sage ich, die Verfassungsansprüche sind immer noch zu erfüllen, die sind nämlich noch gar nicht da. Und das ist für mich auch eine Grundlage zu sagen, Antifaschismus zukünftig heißt auch, solche Ansprüche mit Leben zu füllen. Das ist jetzt die grundsätzliche Antwort:

Wir brauchen keine andere Gesellschaft. Wir brauchen eine Gesellschaft in der die Ansprüche und Versprechen, die eigentlich mal aus der Aufarbeitung des Faschismus entstanden sind, auch tatsächlich mit Leben gefüllt werden. Denn das werden sie nicht.

Müssten wir uns nicht eigentlich alle Antifaschist*innen nennen? Also muss nicht der Begriff Antifaschismus viel breiter gesellschaftlich verankert werden?

Ich bin sowieso der Meinung, dass wir alle Antifaschisten sein sollten, das finde ich sowieso klar. Ich denke, der Staat hat lange Zeit aktiv dafür gewirkt, dass der Begriff Antifaschismus auch als Denunziationsbegriff benutzt wird. Natürlich, die Umkehrung ist, wir haben uns positiv damit identifiziert. Wir sind Antifaschisten und wir haben relativ viel Zuspruch und Unterstützung dafür bekommen. Aber die Tatsache, dass bis zum letzten Jahr der bayrische Verfassungsschutz die VVN immer noch als größte extremistisch beeinflusste Organisation gelistet hatte und Antifaschismus im Bundesverfassungsschutzbericht immer noch als gewalttätige Bewegung denunziert wird, macht klar, dass die rechten Kräfte innerhalb der Staatsorgane natürlich einen Teufel tun werden, den Begriff Antifaschismus gesellschaftlich zu öffnen und akzeptiert zu machen.

Ich glaube, dass der Begriff des Antifaschismus schon auch eine Haltung ist, die aber tatsächlich auch eine Haltung des Handelns des Einzelnen mit beinhaltet. Das hat auch ein bisschen was mit den Erfahrungen aus dem antifaschistischen Widerstand zu tun. Dort gibt es ja auch immer wieder die Frage, wen man als Widerstandskämpfer bezeichnet. Ich bin ganz offen für ganz viele unterschiedliche ablehnende Haltungen gegenüber dem NS-Regime.

Aber wenn ich von Widerstand spreche, von antifaschistischem Widerstand, dann gehört für mich immer auch das Handeln dazu. Nicht nur eine Überzeugung, sondern das Handeln.

Die jungen Menschen, die sich heute mit dem Thema beschäftigen, müssen verstehen, was das mit ihrem eigenen Leben und ihrem Handeln zu tun hat. Und deswegen ist dieser Satz „Wir müssen alle Antifaschisten sein“ anspruchsvoll. Ja, antifaschistisch denken jederzeit, aber wir müssen auch antifaschistisch handeln. Und da macht nicht immer jeder mit, und manche machen gar nicht mit. Das ist einfach so.