ISD

Deutscher Rassismus tötet und vergisst

Dieser Beitrag kommt von der ISD – Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Es ist die Antwort der ISD Kassel auf unsere Anfrage, sich mit den Zusammenhängen zwischen dem 8. Mai, Tag der Befreiung, dem 6. April, Todestag von Halit Yozgat und dem 2. Juni, Todestag von Walter Lübcke zu beschäftigen.

Zu Anfang: Ich erzähle hier aus meiner Perspektive, einer von vielen diversen Schwarzen Perspektiven in Deutschland. Ich bin eine Schwarze Stimme und kann nicht für eine größere heterogene Gruppe Schwarzer Menschen in Deutschland mit unterschiedlichsten Erfahrungen sprechen.

„Deutscher Rassismus tötet und vergisst, tötet und vergisst, tötet und vergisst. Bevor er physisch tötet, tötet er sozial. Und das Vergessen ist dafür unerlässlich. Die Gemeinschaft der weißen Deutschen hat die Existenz von Schwarzen Menschen in der Geschichte und Gegenwart dieser Nation schlichtweg vergessen.“ (Shaheen Wacker aus einem Essay in dem Buch “Schwarz wird großgeschrieben”).

Vergessen wurden: Völkerschauen, Zwangssterilisation, Ausbürgerung, Deportation, Genozide & anhaltende erdrückende Machtstrukturen.

In der deutschen Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Thema Kolonialismus zunächst ignoriert und die frühere deutsche Beteiligung als Kolonialmacht sogar verleugnet. Die deutschen Kolonien waren 1914 an Fläche das drittgrößte Kolonialreich nach dem französischen und britischen. Nachdem Deutschland den ersten Weltkrieg verloren hatte, mussten sie durch den Versailler Vertrag all ihre Kolonien aufgeben. Es waren 30 Jahre der Unterdrückung, Versklavung, Plünderungen, Dehumanisierung und des Auslöschens von Schwarzen Leben.

Antikolonialen Widerstand gab es immer schon auch hier in Deutschland. Die erste deutsche Schwarze Bewegung war angeführt durch Martin Didobe im Jahr 1919.

Bis heute lernen wir nicht im Geschichtsunterricht oder in Universitäten über die Tragweite des Kolonialismus oder gar die Geschichte von Schwarzen Menschen in Deutschland.

Flächendeckend geschieht eine Bagatellisierung bzw. Verschleierung der Rolle Deutschlands. Dies lässt sich sehr gut erkennen am Beispiel von Straßennamen mit kolonialen Bezügen. Auch lange nach dem Kolonialismus wird hier nicht rückwirkend “geahndet”.

In diesem Text möchte ich von Schwarzen Menschen erzählen, an die wir gedenken sollten. Die Fälle, über die ich erzähle, verdienen es erinnert zu werden. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Schwarze Menschen, die gewaltvoll umgekommen sind in Deutschland:

1991 Jorge Gomondai

Jorge Gomondai wurde Todesopfer eines rassistischen Überfalls in Dresden nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Am 6. April 1991 erlag Jorge Gomondai in Dresden seinen Wunden, die er durch einen Angriff von Nazis erlitt. Es geschah in der Nacht zu Ostersonntag als der aus Mosambik stammende 28-Jährige Vertragsarbeiter in der Dresdner Neustadt in die Straßenbahn stieg. Es stieg eine Gruppe von 14 rechtsextremen jungen Männern und Jugendlichen dazu, die direkt begangen ihn rassistisch zu beleidigen und zu attackieren. Obwohl eine Polizeistreife bereits am Vorabend die Gruppe beobachtet hatte, da sie zuvor randalierten, griff niemand ein. Es ging alles sehr schnell. Die Straßenbahnfahrerin merkte 150 m nach der Haltestelle, dass eine Waggontür offen war und entdeckte dann Jorge Gomondai auf den Gleisen liegend. Insassen eines vorbeifahrenden Taxis versuchten noch, dem blutüberströmten Jorge erste Hilfe zu leisten. Knapp 6 Tage später erlag er seinen Wunden. Die Polizei ermittelte zunächst nicht gegen rechts. Sie ging einfach von einem alkoholbedingten Sturz aus, sicherte keine Spuren und vernahm keine Zeug*innen. Erst später, nach Druck, der durch das Bekanntwerden des Falls entstand, rollte die Polizei die Ermittlungen neu auf. Bis dahin war aber der Bahnwagen verschrottet und die Videos von den Tätern waren gelöscht. Und erst als ein Aussteiger aus der rechtsextremen Szene aussagte, er wisse, dass Jorge Gomondai in der Nacht mit vorgehaltenem Messer zum tödlichen Sprung gezwungen wurde, sah die Staatsanwaltschaft davon ab, von einem freiwilligen Sprung auszugehen. Von den 14 Verdächtigen wurden drei Personen angeklagt und lediglich eine Person von ihnen erhielt eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Der Fall wurde nie richtig aufgeklärt. In Dresden erinnern heute ein Gedenkstein und der Jorge-Gomondai-Platz an eines der vielen Opfer von rechtsextremen Morden in Deutschland.

Rassismus hat unterschiedliche Ausprägungsformen. Rassismus spiegelt sich auch in Polizeigewalt wieder. Hier stelle ich euch einige der Opfer vor:

1999 Aamir Ageeb aus dem Sudan – Erstickungstod durch einen Polizeibeamten bei seiner Abschiebung.

2001 N’deye Mareame Saar aus Senegal – durch einen Polizisten erschossen.

2001 Michael Paul Nwabuisi aus Nigeria – Tod im Polizeigewahrsam durch Einsatz von Brechmittel.

2004/05 Laya-Alama Condé aus Sierra Leone – Tod im Polizeigewahrsam durch Einsatz von Brechmittel.

2005 Oury Jalloh aus Sierra Leone – im Polizeigewahrsam gestorben.

2006 Dominique Koumadio aus Kongo – durch einen Polizisten erschossen.

2011 Christy Schwundeck aus Nigeria – im Jobcenter wurde sie von einer Polizistin erschossen.

2016 Yaya Jabbi aus Gambia – im Polizeigewahrsam gestorben.

2019 Rooble Muse Warsame aus Somalia- im Polizeigewahrsam gestorben.

Bei all diesen Fällen ist die große Problematik, dass es vom Staat kein Interesse gibt hier zu ermitteln oder aufzuklären.

Seit 1990 sind 208 Menschen im Polizeigewahrsam gestorben. Death in Custody ist ein Bündnis, welches diese Fälle selbstständig dokumentiert. Diese Namen kennt die weiße deutsche Dominanzgesellschaft nicht. Von den deutschen Institutionen gibt es keine Statistiken, die diese sichtbar macht, um strukturellen und systematischen Rassismus zu erfassen oder gar zu bekämpfen.

Zum anderen muss auch erwähnt werden, dass Olaf Scholz als Innensenator von Hamburg trotz Warnungen von Expert*innen die Nutzung von Brechmitteln genehmigt hatte. Deutschland wurde 2006 wegen des Einsatzes von Brechmitteln und des Verstoßes gegen das Verbot von Folter und menschenunwürdigen Behandlung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zu einem Schmerzensgeld von 10.000 Euro verurteilt. Die Aufarbeitung und Aufklärung des Einsatzes von Brechmitteln wegen des Verbrechens an Michael Paul Nwabuisi und anderen Opfern fehlen bis heute noch. Noch nicht einmal eine Entschuldigung an die Hinterbliebenen gab es.

Shaheen Wacker hat in dem Essay aus “Schwarz wird großgeschrieben” Gedanken dazu formuliert, die mich stark inspirierten.

Warum muss die deutsche Dominanzgesellschaft in die USA schauen, zu George Floyd, wenn auch hier, wie aufgezeigt, deutscher Rassismus tötet und immer schon getötet hat. Institutioneller Rassismus ist tief verankert.

Die rassistisch motivierte Ermordung George Floyds erhielt auch in Deutschland eine enorme mediale Aufmerksamkeit. Das gewaltvolle Video der Ermordung George Floyds hat die Schwarze Community nicht gebraucht, um zu wissen, dass Rassismus tötet. In vielen Fällen wurden diese Videos geteilt und öffentlich gemacht. Um zu zeigen, wie schlimm der US-amerikanische Rassismus ist und im gleichen Zuge die Situation in Deutschland zu bagatellisieren. Auch wenn es ein wichtiger Moment für die Politisierung und Vernetzung Schwarzer Menschen in Deutschland war, bleibt die Frage, warum Rassismus erst von Weißen legitimiert werden muss und warum es ein so gewaltvolles Video braucht, um Rassismus ernst zu nehmen? Warum gab es diese mediale Aufmerksamkeit, Solidarität und diese Protestwelle, die es nach der Ermordung von George Floyd gab, nicht für Jorge Gomondai, Aamir Ageeb, Michael Paul Nwabuisi, Laya-Alama Condé, Oury Jalloh, N’deye Mareame Saar, Dominique Koumadio, Christy Schwundeck, Yaya Jabbi und Rooble Muse Warsam und die vielen anderen Menschen, deren Namen wir nicht kennen.

Warum haben sich weiße Menschen schneller identifizieren können mit dem traumatischen Ereignis des Todes von George Floyd? Haben die anderen Schwarzen Menschen nicht auch diese Solidarität gebraucht? Diese Identifikation kommt (nicht) zustande, da wir hier in Deutschland mit der US-amerikanischen Sichtweise durch Fernsehen, Lifestyle und Kultur aufgewachsen sind. Identifikationsfiguren fanden wir selbst in unserer Jugend durch US-amerikanische Schwarze Sänger*innen, Schauspieler*innen, Moderator*innen. Diese Schwarzen Menschen aus dem US-Kontext wurden legitimiert von der deutschen und europäischen Sichtweise und als Bild für Schwarzes Leben präsentiert.

All die Menschen, die gewaltvoll in Deutschland umgekommen sind, wurden als Schwarz gelesen. Aber nicht als das Schwarz mit dem sich weiße Menschen identifizieren können. Sondern als ein Schwarz, was in den Augen der weißen Dominanzgesellschaft abweichend ist.

Denn Schwarze afrikanische Menschen werden hier in Deutschland mit Stereotypen versehen, die ich an der Stelle nicht thematisieren werde. Vor allem die afrikanischen Communities in Deutschland werden nicht gesehen, obwohl diese Communities sehr groß sind. Es sind doch immer die eigenen Communities die Aufmerksamkeit schaffen müssen. Leider fehlt jedoch das Interesse von der weißen Dominanzgesellschaft aufzuklären. Mediale Aufmerksamkeit für diese Fälle sind sehr kraftraubende Prozesse, die viele Ressourcen abverlangen. Denn in vielen Fällen sind es Institutionen gegen die vorgegangen werden muss. Sei es die Polizei, die wie oft gezeigt Täter ist.

Aber das große Problem, wenn wir Schwarze Menschen dehumanisieren und uns nicht solidarisch mit Ihnen zeigen, wird es weiterhin BPOCs geben, deren Namen wir nicht kennen und somit vergessen.

Wir erinnern uns an die NSU Morde: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut , İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat.

Wir erinnern uns an Hanau: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.

Wir erinnern uns an Walter Lübcke.

Wir erinnern uns an Jorge Gomondai, Aamir Ageeb, N’deye Mareame Saar, Michael Paul Nwabuisi, Laya-Alama Condé, Oury Jalloh, Dominique Koumadio, Christy Schwundeck, Yaya Jabbi, Rooble Muse Warsame.

Und wir erinnern uns an die vielen unbekannten und undokumentierten Fälle.

Say their names.

Quellen zum weiter- oder nachlesen:

https://gegenuns.de/jorge-gomondai/

Schwarz wird großgeschrieben, 2021. Herausgegeben von Evein Obulor / Rosamag.

https://doku.deathincustody.info/

https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Als-Achidi-John-starb-Ein-Brechmittel-Einsatz-und-seine-Folgen,brechmittel100.html

https://www.augenauf.ch/bs/doku/chukwu/ageeb1.htm http://no-racism.net/article/1925 https://taz.de/Mahnmal-fuer-Laye-Conde/!5693524/

https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/oury-jalloh-todestag-polizeigewalt-linksextremismus-egmr-bverfg/

https://www.nds-fluerat.org/248/aktuelles/in-gedenken-an-dominique-koumadio/

https://www.fr.de/frankfurt/tod-von-christy-schwundeck-von-einer-polizistin-erschossen-90653172.html

https://www.hamburg-global.de/v1.0/placemarks/113 https://taz.de/Tod-in-Polizeigewahrsam/!5695327/

https://heimatkunde.boell.de/de/2020/09/08/rassistische-polizeigewalt-deutschland

https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/10/keine-studie-rechtsextremismus-polizei.html