Ini 6. April – Lange Version

„Wichtig ist, diese Kämpfe nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zu gucken, was eigentlich die verbindenden Punkte sind.“

Interview vom 26.04 zwischen zwei Mitgliedern der Initiative 06. April und zwei Personen des Antifaschistischen Mai. Das Folgende ist die lange Version des Gesprächs, eine deutlich kürzere Version ist hier zu finden.

Ihr als Initiative 6. April beschäftigt euch mit dem Mord an Halit Yozgat, habt Gedenkveranstaltungen mit organisiert und wart im Kontakt mit der Familie Yozgat. Wieso findet ihr es politisch wichtig zu Halits Gedenken zu arbeiten?

C: Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 vom NSU ermordet. Zwei Tage nach Mehmet Kubasik in Dortmund. Er war das neunte und jüngste Mordopfer des NSU. Der NSU hat schon lange vorher gemordet und existiert und tat das auch danach noch weiter. Einen Monat nach dem Mord an Halit haben sich die Familien Kubaşık, Şimşek und Yozgat zusammengeschlossen und eine Gedenkdemonstration in Kassel unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ veranstaltet. Es gab also bei den Betroffenen schon 2006 ein Wissen darüber, dass es eine rassistische Mordserie sein muss und es darum gehen muss, die Leute die morden und die Leute, die diese unterstützen, aufzudecken und zu verhindern, dass es noch weitere Morde gibt. Diese Demonstration war sehr groß, wurde aber sehr wenig wahrgenommen. Sie war vor allem von migrantischen Menschen organisiert und getragen. Sie hatte bereits Forderungen wie „Kein 10. Opfer!“ oder „Warum tut die Polizei nichts?“.

Die Demo hatte aber nicht zur Konsequenz, dass es in der Zivilgesellschaft oder auch in einer linken Szene einen Aufschrei gab und ein Erkennen, dass hier gerade eine rassistische Mordserie läuft. Nach den Morden wurden vielmehr – in allen Fällen – die Familien und Überlebenden kriminalisiert. In Richtung rechte Täter*innen gab es kaum oder nur sehr symbolische Ermittlungen. Das führte dazu, dass die Familie Yozgat immer wieder von der Polizei befragt wurde, dass sie überwacht und selbst in Familienurlauben observiert wurde. Erst nach dem Öffentlichwerden des NSU 2011 kam es zu einem breiteren Bewusstsein darüber, dass es in Deutschland rassistische Morde gab, dass diese Morde gedeckt wurden anstatt zu ermitteln. Überhaupt erst in dem Zuge gab eine Anerkennung als Opfer und Überlebende rechter und rassistischer Gewalt von staatlicher bzw. gesellschaftlicher Seite. Das alles ist der Kontext, in dem sich die Initiative 6. April gegründet hat.

Auf der Gedenkveranstaltung der Familie Yozgat 2012, nach der Selbstenttarnung des NSU, haben Menschen gemerkt, dass es Unterstützung braucht. Die Gründer*innen der Ini beschreiben das immer so, dass sie gemerkt haben, dass bei der Rede von Ismail Yozgat niemand so richtig zugehört hat, viele die Augen verdreht haben und der Inhalt sich nicht an eine Dominanzgesellschaft vermittelt hat.

Es stellte sich die Frage: Wer wird da eigentlich gehört und wessen Perspektiven sind da wichtig? Das war damals ein Ausgangspunkt und das ist weiterhin ein zentraler Punkt für uns: Dass die Perspektive der Betroffenen zentriert wird und das bedeutet, deren Forderungen in den Mittelpunkt zu stellen.

Es gibt den Bedarf die rassistischen Kontinuitäten, die der NSU sichtbar gemacht hat, zu thematisieren und zu bekämpfen. Das ist der Punkt, an dem die Ini sich gegründet hat und seitdem existiert sie in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Die Ini versucht anhand der Forderungen der Familie diese Morde weiter zu bearbeiten und damit eben auch an Halit zu gedenken und zu erinnern.

Damals gab es bereits die Erkenntnis, dass Gedenken in dieser rassistischen Dominanzgesellschaft schwierig ist. Das ist auch bis heute weiter so und deswegen gibt es die Notwendigkeit der Ini auch weiter zu existieren und genau das immer weiter anzukreiden und die Forderungen weiter zu tragen. Diese sind vor allem:

Die Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße, die Rolle von Temme aufzuklären und den Verfassungsschutz anzuklagen, bzw. aufzulösen und Aufklärung! Kein Schlussstrich! Den NSU nicht als ein Trio zu begreifen, sondern als ein Netzwerk, das konkrete Unterstützung geleistet hat. Und auch über eine Gesellschaft zu sprechen, in der dieses Netzwerk überhaupt entstehen konnte und gedeckt wurde.

Was bedeutet es für euch genau die Perspektive der Betroffenen zu zentrieren und was bedeutet das für eine antifaschistische Erinnerungspolitik?

D: Für uns bedeutet Betroffenenzentrierung nicht, dass wir immer zum Beispiel die Familie Yozgat oder auch alle anderen Überlebenden rassistischer Gewalt auf die Bühne zerren müssen und immer sie reden, sondern dass wir deren Forderungen zentrieren. Was manchmal ein Trugschluss ist in antifaschistischen, linken gedenkpolitischen Kontexten: Dass man sich aussuchen kann, wer Opfer von Faschismus wird. In einer idealen Welt gäbe es sowieso keine Opfer von Faschismus. Für mich persönlich ist es egal, wer Opfer wird, wer ermordet wird, wer betroffen ist von rassistischen Gewalttaten, um an der Stelle mit den Menschen zusammenarbeiten zu können. Ich finde es wichtig, nicht hinter dem Rücken von Familien oder Überlebenden so eine Arbeit zu machen und da kann es politische Differenzen oder auch Ähnlichkeiten geben, die es dann halt leichter oder schwerer machen zusammen zu arbeiten.

Welche Rolle spielt eurer Ansicht nach darin die Frage, wem dieser Tag „gehört“?

D: Ich finde in diesem ganz konkreten Fall gehört der 6. April – zumindest an dem Ort Halitplatz – der Familie. Das ist ihr Tag. Da gibt es noch viele Leute, die Halit gekannt haben, die Angehörige sind, die das mitbekommen haben, die da persönlich trauern. Gleichzeitig würde ich sagen, dass das Gedenken nicht in dem Sinne der Familie Yozgat gehört, als dass sie alles absegnen müssen, was rund um das Thema passiert. Das wäre ja auch sehr viel verlangt für Menschen, denen so etwas passiert ist. Das ist auch eine Form Verantwortung abzugeben.

Ich finde es ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft, diese Menschen nicht zu vergessen und daran zu erinnern. Gerade als Antifaschist*innen haben wir da eine Verantwortung. In dem Sinne gehört dieser Tag niemandem oder uns allen. Ich finde es wichtig unterschiedliche Formen von Erinnern zu finden und zu sehen, dass es nicht nur dieser eine Tag ist, sondern dass es halt jeder Tag ist.

C: Ja und es ist auch jeder Tag. So viele rechte Morde, die es seit 1990 und auch schon davor gab. Wir könnten eigentlich jeden Tag einen Gedenktag machen. Und so geht es an diesen konkreten Tagen jetzt hier vielleicht um Halit, aber Ismail Yozgat hat von Anfang an auch gesagt: Halitstraße nicht nur wegen Halit, sondern wegen allen Halits. Das heißt wegen allen, die von rechter, rassistischer Gewalt betroffen sind oder ermordet wurden. Auch das ist Teil der Betroffenenzentrierung, diesen größeren Kontext immer wieder mitzunehmen und zu benennen.

Einer der Bezugspunkte in unserem Projekt ist der 8. Mai 1945 – könntet ihr etwas dazu sagen, welche Bedeutung dieses Datum für eure Arbeit hat?

D: Wir haben in Hinblick auf das Gespräch darüber nachgedacht, dass der 6. April 2006 zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 2. Juni 2019 liegt und in beide Richtungen der Blick frustrierend ist. Wir leben zwar zum Glück nicht mehr unter faschistischen Bedingungen aber auch nicht in einer antifaschistischen Gesellschaft. Sonst bräuchte es uns als Initiative nicht, weil diese Morde nicht passieren könnten und auch nicht alles was danach passiert ist so hätte passieren können. Dann stellt sich die Frage nach Kontinuitäten rechter Gewalt sowohl aus der NS-Zeit heraus als auch schon von vor der NS-Zeit; rassistische und antisemitische Kontinuitäten. Das ist ein wichtiger Bezugspunkt in unserer Arbeit. Auch die Frage: Was lernen wir aus Widerstand aus der NS-Zeit? Und was lernen wir aus der Gedenkpolitik um die Shoa? Da ist der 8. Mai dann ein wichtiger Tag.

C: Die Shoa wird ganz oft als Lernerfahrung für eine deutsche Gesellschaft beschrieben und viele von den NSU-Hinterbliebenen sagen, dass sie sich eigentlich nicht vorstellen konnten, dass so etwas in Deutschland – mit dieser Geschichte – passieren konnte. Es gibt dieses Shoa-Gedenken vor allem, weil es Juden*Jüdinnen gab und gibt, die das einfordern, die das kritisieren, die als Zeitzeug*innen akzeptiert sind und darüber reden. Gleichzeitig wird aber diese jüdische Perspektive im Shoa-Gedenken unsichtbar gemacht und es geht oft eher um eine deutsche weiße Reinigung und dass wir daraus gelernt hätten. Damit wird eine Betroffenenzentrierung aus einer jüdischen Perspektive in Bezug auf die Shoa unsichtbar gemacht. Das ist auch wieder eine Kontinuität, die wir vom NS zum NSU sehen, nämlich dass Betroffene eben nicht im Mittelpunkt der Analysen, der Perspektiven des Gedenkens, der Wünsche und Forderungen stehen, sondern dass es v.a. um eine weiße deutsche Bearbeitung geht und den Versuch, da ein bisschen einen Schlussstrich zu ziehen. Ich glaube, dass die Erkenntnisse wie jüdische Widerstandskämpfer*innen auch ein Erinnern und Gedenken an die Shoa eingefordert haben, das ihnen entspricht, auch in Bezug auf den NSU total wichtig sind. Daran anzuschließen und da auch immer wieder zu mahnen: Um wen geht es? Wer wird erinnert? Wer macht dieses Erinnern und wie wir das gestaltet?

Welche Bezüge seht ihr noch zwischen dem 8.Mai 1945 und dem 06. April 2006?

C: Ich finde in Bezug auf den 8. Mai ist das nochmal komplizierter, was die Frage nach Betroffenenzentrierung angeht, weil da ja noch viel mehr Leute eine Form von Betroffenheit haben und genau das ist ja, was den 8. Mai auch ausmacht. Dass der Nationalsozialismus nicht nur für Jüd*innen tödlich war, sondern für ganz viele unterschiedliche Menschen, die ermordet wurden.

Es gibt unterschiedliche Motive, aus denen Menschen von faschistischer Gewalt betroffen sind. Es ist wichtig, das zu sehen und das aber nicht gegeneinander auszuspielen, sondern das miteinander in Beziehung zu setzen und z.B. zu sehen, dass Antisemitismus auch im Kontext NSU relevant ist.

Der NSU hat zwar vor allem rassistische Morde begangen, aber die Ideologie, auf die sich der NSU bezogen hat, war auch eine antisemitische. Die ersten bekannten Aktivitäten des NSU in den 90er Jahren in Thüringen waren antisemitische. Es wurden vom NSU z.B. Puppen mit dem gelben Stern von Brücken heruntergehangen. Der NSU hat sich durch ein selbst hergestelltes antisemitisches Vernichtungsspiel finanziert und im Untergrund dadurch überleben können. Da sehen wir, dass der NSU nicht nur rassistische Morde begangen hat, sondern auch diese antisemitische Ideologie, auch alleine schon im Namen, weitergeführt hat. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es da auch diese Kontinuitäten gibt im NSU und über die wird auch einfach nicht so viel gesprochen.

Wir müssen also auch im Kontext von NSU über Antisemitismus reden und dann aber nicht daraus machen, dass deswegen Rassismus nicht relevant ist. Sondern eben genau diese Perspektiven zu verschränken. Und ich finde, das macht auch genau eine Betroffenenzentrierung für mich aus.

D: Und umgekehrt, zum Beispiel im Fall von Halle nicht nur die antisemitische Motivation zu sehen, sondern auch die rassistische Motivation dessen. Und die misogynen und ableistischen Motive.

Wie würdet ihr diese zwei Daten mit dem Mord an Walter Lübcke in Bezug setzen? Nehmt ihr da Veränderungen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung wahr?

C: Einerseits ist das Täternetzwerk ein ähnliches und es gibt personelle Kontinuitäten. Andererseits da zu merken, dass dieser Aufschrei und dieses „Nie wieder!“ auch kein „Nie wieder!“ ist. Sondern es kann jeden Tag passieren und es passiert auch jeden Tag und ich finde das macht auch der Mord an Walter Lübcke in dieser Stadt deutlich:

Die Notwendigkeit, dass eine erinnerungspolitische Perspektive nie nur auf eine Vergangenheit ausgerichtet ist, sondern immer die konkreten Konsequenzen solcher Gewalt benennt und Forderungen, die an eine Zukunft gerichtet sind, artikuliert.

D: Das ist etwas das auch mit dem „interessanten“ Umgang mit der NS-Zeit in Deutschland zu tun hat, dass es beim NSU zum ersten Mal ein breit wahrgenommenes „Krass, hier gibt es mordende Nazis!“ gab, was da schon absurd war, weil es eben in der BRD und der DDR davor schon hunderte andere rechte Morde gab.

Immer wieder erstaunt darüber zu sein, dass Nazis morden, ist für mich ein ganz klares Zeichen einer schwierigen Vergangenheitsbewältigung oder Erinnerungspolitik.

Weil in Deutschland darüber erstaunt zu sein, dass es Rechte gibt, die morden, das finde ich absurd.

Und das ist etwas, was bei Lübcke wieder passiert ist, dass wieder alle gesagt haben: „Oh mein Gott, Nazis ermorden Leute“. Und man denkt sich so „Hallo? Es gab schon so viele Morde und es gab in dieser Stadt schon einmal einen Mord.“ Es gab den rassistischen Mordversuch auf Ahmed I., dem man ewig nicht geglaubt hat, dass es ein rassistisches Motiv gegeben haben muss und wo der Täter ewig nicht gefunden wurde. Dann muss erst ein weißer Regierungspräsident, ein CDU-Politiker ermordet werden, damit man auf den Täter aufmerksam wird und dann wird er dafür noch nicht mal verurteilt, weil damals 2016 so schlampig ermittelt wurde.

Nach dem Öffentlichwerden des NSU gab es auch ein großes „Das ist eine Zäsur. Wir machen jetzt alles anders, das darf nie wieder passieren.“ Das ist nicht passiert. Es gab schon eine Zäsur politisch würde ich sagen. Zum Beispiel hat der Verfassungsschutz viel mehr Geld bekommen, was eine sehr falsche Konsequenz aus dem NSU-Komplex ist. Dann gab es Lübcke und wieder große Reden von „Zäsur und das darf nie wieder passieren.“ Da ist dann schon ein bisschen mehr passiert. Da gab es dann große Programme gegen Rechtsextremismus, bestimmte staatliche Gelder wurden aufgestockt. Dann ist Hanau passiert und dann gab es wieder, – wenn auch schon weniger – den Tenor „Oh mein Gott, ein rechter Terroranschlag. Das wird eine Zäsur.“ Und es ist klar, dass seit Hanau auch viel rassistische Gewalt passiert ist. Es gab mindestens zwei rassistische Mordversuche in Kassel und bundesweit sicher mehr. Außerdem sind mehrere rassifizierte Menschen auf Polizeistationen gestorben. Das passiert wieder und wieder. Deswegen finde ich, hat sich bezüglich des politischen Umgangs und den gesellschaftlichen Voraussetzungen wenig verändert. Die Selbstorganisierung und Sichtbarkeit von Betroffenen und Aktivist*innen ist dafür aber anders und viel, viel stärker und sichtbarer.

Welche Unterschiede nehmt ihr in der Auseinandersetzung um den Mord an Walter Lübcke im Vergleich Halit Yozgat wahr?

C: Was auffällt, ist der Unterschied in der Strafverfolgung. Wir haben bei Lübcke nie das Problem gehabt, dass es eine Kriminalisierung seiner Familie oder seines persönlichen Umfeldes gab. Das war im NSU-Komplex sehr stark so und auch bei Ahmed I. der Fall. Das waren sehr rassistische Ermittlungen. Betroffene und Überlebende nennen das den „Anschlag nach dem Anschlag“, weil ihnen die Legitimität als Betroffene und Angehörige abgesprochen wurde. Und dass das genauso ist, hat was mit den rassistischen Kontinuitäten zu tun.

Gleichzeitig finde ich, dass es uns strategisch nichts bringt, dass gegeneinander auszuspielen. Das ein Gedenken an Lübcke anders aussieht, weil es ein weißer CDU-Politiker war. Weil Lübcke wurde auch von Nazis ermordet und es ist auch wichtig, dass es für ihn eine gute Gedenk- und Erinnerungspolitik gibt und Konsequenzen aus dem Mord gezogen werden. Wir als Initiative 6. April müssen das auch in Beziehung zu unserer Arbeit setzen.

D: Beim 02 . Juni war ich überzeugt, dass es da ein staatstragendes, öffentliches Gedenken von der CDU oder wem auch immer gibt. Letztes Jahr hat die Kundgebung aber die Linkspartei angemeldet und da waren nicht viele Leute. Ich habe das Gefühl, dass das ansteht, mit der Familie Lübcke in Kontakt zu treten. Ähnlich wie beim 6. April denke ich, dass wir da keine Scheu haben sollten, uns diesen Tag auch als antifaschistisches Gedenken zu begehen. Also das ist auf jeden Fall ein Datum, das wichtig sein sollte für uns.

Es ist trotzdem bitter zu sehen, wie anders staatlicherseits mit Lübcke umgegangen wird. Einerseits zumindest. Es wurde super schnell eine Brücke umbenannt, die Walter-Lübcke-Schule wurde umbenannt, es gibt eine Briefmarke, es soll ein Kunstwerk entstehen. Das sind Sachen, die es für Halit Yozgat nie gab. Da wird schon sichtbar, wessen Leben in diesem Land wie viel wert ist. Gleichzeitig ist es auch erschreckend zu sehen, wie wenig bürgerliche Parteien selbst den Mord an Walter Lübcke auf dem Schirm haben.

Deswegen denke ich, das ist nicht nur Rassismus, sondern das ist auch ein sehr deutsches Problem. Es gibt sicher vielfältige Analysen dazu, aber der Punkt von „Das darf es hier nicht geben, mordende Nazis darf es nicht geben, weil Deutschland ist wieder gut geworden.“, das ist nicht nur mit Rassismus zu erklären.

Sondern auch mit dem Anspruch einer „geläuterten Nation“?

D: Ja, ich glaube schon, dass das immer noch ein wirkmächtiges Motiv ist. Die Idee, dass Deutschland gelernt hätte. Also „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“. Und daraus entsteht ein Nicht-Hinschauen wollen bei faschistischer Gewalt. Wenn hingeschaut wird, dann mit einer Idee von Einzeltätern und nicht mit der Analyse, dass es Nazi-Netzwerke gibt.

C: Gerade die Einzeltäter-These ist etwas, das wir aus einem Kontext von Nationalsozialismus und der Aufarbeitung auch kennen. Einzelne Personen werden herausgegriffen, die besonders schlimm waren und besonders die Verantwortung tragen. Das gleiche haben wir auch beim NSU wieder: Da geht es dann um das Trio und das ist jetzt tot bzw. bestraft. Auch bei Lübcke haben wir das wieder. Da gibt es jetzt diesen einen Täter, der jetzt eine anscheinend gerechte Strafe dafür erhalten hat. Das ist ja auch immer wieder das gleiche Motiv: „Wir haben Einzeltäter, wir machen einen Gedenkstein oder benennen irgendwas um und dann haben wir es auch.“ Dann gibt es noch einen Jahrestag. Super. Aber das ist ja nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass wir in der Kontinuität eines faschistischen Deutschlands leben, das nicht entnazifiziert wurde. Das sind Dynamiken und Machtverhältnisse, die sich durch die gesamte Gesellschaft ziehen und die wir auch als solche bearbeiten müssen.

Da macht es keinen Sinn immer wieder von Einzeltätern zu sprechen und das gleichzeitig mit einem Schlussstrich zu verbinden, weil die eine oder die wenigen Personen bestraft worden sind. Es gibt keinen Schlussstrich und den dürfen wir auch nicht zulassen!

Der 8. Mai war für die deutsche Bevölkerung nicht nur eine Befreiung, sondern auch eine Niederlage. Faschistische Tendenzen haben auch nach dem 8. Mai weiter existiert und das können wir auch in Bezug zum 6. April setzen. Dass es eine Entnazifizierung bis heute nicht gegeben hat, ist überhaupt erst die Bedingung dafür, dass diese 10 Morde passieren konnten. Die Sicherheitsbehörden waren nach ’45 auch Teil dieser fehlenden Entnazifizierung, das sehen wir in Bezug auf den 6. April in der Person Temme und dem Verfassungsschutz als solchen. Der hatte Wissen darüber, dass es diese Morde gibt und hat nichts gemacht bzw. diese gedeckt bzw. war einfach Teil davon. Wir wissen, dass Andreas Temme als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes am 6. April im Internetcafé war. Es gibt die Nachstellungen der Situation und der Räume, die nachweisen, dass Temme den Schuss eigentlich gehört haben muss, dass Temme eigentlich auch Halit am Boden liegend gesehen haben muss und den Schmauch gerochen. Und Temme hat noch nie dazu ausgesagt. Weil er eine Aussageverweigerungsgenehmigung von Bouffier hat. Das ist Teil dieser fehlenden Entnazifizierung. Deshalb glaube ich, ist es für uns auch total produktiv sich diesen 8. Mai und die Kontinuitäten vom Nationalsozialismus bis heute anzuschauen.

D: Ein weiterer Punkt, den wir zentral finden was Erinnerungspolitik angeht und auch in der Kontinuität aus der NS-Zeit sind finanzielle Fragen. Die gehören ja auch immer zum Überleben. Reparationszahlungen aus der NS-Zeit gab es nicht nur bei jüdischen Verfolgten, sondern auch bei anderen Opfergruppen wie Sinti*zze und Rom*nja Homosexuellen, behinderte Menschen und vielen Weiteren super wenig. Dahinter stecken natürlich auch Macht- und wirtschaftliche Interessen. Weil es ist ja schon die Frage: Wie entschädigt man so etwas? Wie viel ist ein Menschenleben wert? Das wurde auch in den Reden zum Gedenken an den 19. Februar dieses Jahr thematisiert. Da hat ein Vater auch über Entschädigungszahlungen gesprochen und er hat gesagt, dass in Deutschland derzeit ein Menschenleben 17.000€ wert ist. Das kriegt man. Das finde ich hart. Es ist sowieso hart, Menschenleben in Geld zu messen und gleichzeitig: 17.000€??? Ich finde das ist sehr wenig Geld. Auch da gibt es eine Kontinuität zum NSU-Komplex und auch darüber hinaus gehend, wenn wir über den Lübcke-Mord reden oder auch über Ahmed I., der einen rassistischen Mordversuch durch den gleichen Täter überlebt hat. Dabei ist auch die Frage von finanziellem Überleben und wann bekommen Menschen Geld aus dem Opferentschädigungsgesetz und wie viel bekommen sie. Bei den NSU-Familien wurden sehr viele bis zur Selbstenttarnung in den finanziellen Ruin getrieben, weil die Leute, die am meisten verdient haben in den Geschäften, die das Familieneinkommen generiert haben, ermordet wurden. Das finde ich auch eine eklige Kontinuität, was diese Fragen angeht.

C: All das zeigt auch wieder, dass auf den Staat kein Verlass ist. Auf dem NSU-Tribunal 2017 in Köln wurden diese Kontinuität auch mitgedacht und abgebildet. Esther Bejerano hat das Tribunal eröffnet und eine Rede gehalten. Dort hat sie gesagt:

„Wenn es um Antifaschismus geht und den Kampf gegen Nazis, können wir uns auf den Staat nicht verlassen.“

Das ist ihre Lehre aus der NS-Zeit und der Aufarbeitung dieser. Die Konsequenz ist, dass man selber aktiv sein muss und handeln. Wir können als Linke den Staat dafür anklagen, dass das so nicht funktioniert und gleichzeitig sehe ich es auch als unsere Aufgabe, Alternativen zu schaffen, die nicht nur auf eine Kritik bauen, sondern zeigen, wie es anders aussehen kann.

Sowohl aus dem 8. Mai als auch dem 6. April sind für mich die Forderungen: erstens, eine Betroffenenzentrierung von Gedenken und Erinnern. Zweitens anzuerkennen, dass Morde von Faschos aus unterschiedlichen Motiven entstehen begangen werden und dass es vielfältige und unterschiedliche Kämpfe dagegen gibt. Wichtig ist, diese Kämpfe nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zu gucken was eigentlich die verbindenden Punkte sind. Auch die Heterogenität von Gedenken muss anerkannt werden und geschaut werden, wie das dann aussieht und auch was sich Familien wünschen an finanziellem oder emotionalem Support. Aber eben auch einen Selbstschutz zu organisieren, der verhindert, dass Rechte weiter morden

Wie seht ihr die aktuelle Situation antifaschistischer Erinnerungspolitik?

C: Letztes Jahr wurden die Bombendrohungen gegen die Walter-Lübcke-Schule, die mit NSU 2.0 unterschrieben wurden, bekannt. Es gab Menschen von der Ini, die mit der SV der Schule gesprochen haben und da wurde klar, dass die Schüler*innen wenig Wissen darüber haben, was der NSU ist und was der NSU 2.0 ist und warum so eine Bombendrohung passiert. Das zeigt nochmal die Notwendigkeit, diese Verbindungen zu ziehen und sie sichtbar zu machen. Also die Analysen zu: Das ist der NSU-Komplex und das hängt so und so mit Walter Lübcke zusammen und deswegen passiert das und was machen wir jetzt damit und was können wir daraus entwickeln an gemeinsamen Gedenkstrategien. Nicht nur an Gedenken, sondern auch an Selbstorganisierung und alternativen Lebensentwürfen. Das ist zentral.

D: Ich finde gerade Hanau hat nochmal deutlich gemacht, was die letzten Jahre passiert ist. Die Stimmen von Betroffenen, von Überlebenden sind viel lauter geworden. Es gibt eine viel stärkere Selbstorganisierung. Die Leute waren einfach super schnell organisiert, waren laut, wurden gehört. Die Namen der Opfer waren direkt überall präsent und das ist schon eine starke Entwicklung der letzten fünf bis zehn Jahre und vor allem der Selbstorganisierung der Überlebenden und Betroffenen. Nicht nur aus dem NSU-Komplex, sondern auch von rassistischen Gewalttaten aus den 90ern, wie der Familie Arslan, die sich einfach gut organisiert und schon sehr viel erreicht und bewegt haben.

Das eine ist den Toten zu gedenken.

Aber Erinnerungspolitik heißt auch die Lebenden nicht zu vergessen.

Es gibt diesen Satz, den Ferhat Unvar mal gepostet hatte: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Das ist sehr zentral und das finde ich auch gut. Bei antifaschistischer Arbeit geht es oft um Täter*innen, es geht um Strukturen. Das ist alles sehr abstrakt. Das macht wütend, aber ist auch abstrakt. Aber sich daran zu erinnern, dass es da um ganz konkrete Menschen geht und Empathie zu empfinden, sich kennenzulernen und in Verbindung zu treten, das fühlen. Das ist total zentral in Gedenkpolitik.

Gleichzeitig gilt es aber die Lebenden, die Überlebenden nicht zu vergessen. Es gibt zum Glück viele Leute, die rassistische oder antisemitische Gewalt überleben und die gehen manchmal ein bisschen unter. Es gibt dann keinen Gedenktag, sondern einen Jahrestag der Tat. Zum Beispiel bei Efe, dem rassistischen Mordversuch an einem Minicar-Fahrer hier in Kassel, da gibt es zum Glück eine Organisierung und eine Solidarisierung und am Jahrestag immer den Autokorso. Aber ich habe das Gefühl Überlebende gehen in der Aufmerksamkeit ein bisschen unter. Da schließt sich der Kreis zum Finanziellen, in den ganzen Fragen von Reparationszahlungen und staatlichem Auffangen von den Betroffenen. Vor allem wenn es keinen verurteilten Täter gibt. Deswegen ist es wichtig, dass die Ermittlungsbehörden die Täter finden. Aber abgesehen davon müssen wir antifaschistische und antirassistische Arbeit schon selber machen.